Zabriskie Rewind 2018

Zabriskie Rewind 2018

Wie in jedem Jahr wollen wir euch auch dieses Jahr wieder (mit pünktlicher halbjährlicher Verspätung) vorstellen, was die Menschen, die bei uns gelesen, präsentiert, performt, mitgearbeitet haben, eigentlich gerne an Literatur verschlingen. Sie stellen hier ihre Lieblingslektüre für das Jahr 2018 vor – aktuelle und auch ältere Bücher.

Sina Ribak, Umwelt- und Kulturmanagerin:
„Between Us and Nature“ Reading Club, monatlich im Zabriskie

Arts of Living on a Damaged Planet – Ghosts and Monsters of the Anthropocene, edited by Anna Lowenhaupt Tsing, Heather Anne Swanson, Elaine Gan, Nils Bubandt, University of Minnesota Press 2017
‚Arts of Living on Damaged Planet – Ghosts and Monsters of the Anthropocene’ muss man wirklich in den Händen halten, drehen und wenden, denn es liest sich von zwei Seiten: der ‚Monsters’ und der ‚Ghosts’ Perspektive. Überall hatte ich es mit dabei. Es entstanden die unglaublichsten U-Bahn Begegnungen mit Menschen, die der Titel scheinbar genauso ansprang, obwohl sie kaum Englisch zu können schienen. Und plötzlich war das Buch weg. Verloren? Eher verschollen. Zabriskie bestellte es nach. Ärgerlich. Nochmal Geld ausgeben. Aber das Buch musste ich haben. Ich wollte weiterlesen, was Tsing, Swanson und Bubandt aus der Molekularbiologie, der Soziologie, und weiteren Natur- und Humanwissenschaften zusammengetragen hatten, um „kritisch und kreativ Wege des Überlebens in einem mehr als menschlichen Anthropozän“ aufzuzeigen. Der Buchbestellprozess fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Endlich kann das Neue. Natürlich tauchte das Verschollene danach auf. Das Buch selbst wurde zum Geist. Ein guter Geist.

The Word for World is Still Forest, edited by Anna-Sophie Springer, Etienne Turpin. K. Verlag 2017
„The Word for World ist Still Forest“ ist wirklich ein Blätterwald, in dem ich immer wieder nachschlage und Neues und Inspirierendes finde. Anna-Sophie Springer und Etienne Turpin haben eine Ausstellung in Buchform geschaffen, in der unser Blick auf Wälder die Sicht einer Vielzahl von Lebewesen annimmt. Es ist ein starker Titel, der die Waldzerstörungen des Anthropozäns anprangert (angelehnt an Ursula K. Le Guins „The World for World is Forest“, 1968). Die Geschichten der Künstler, einem Nonuya-Ältesten, Human- und Naturwissenschaftlern reißen mich in ihrer Authentizität und Bedeutung mit. Von Berlin aus begleite ich sie bei der Lesereise durch Waldgebiete von Amazon, über Südostasien, Nordpazifik zurück nach Berlin.

Axel Schmidt und Miriam Wiesel, Kurator*innen und Herausgeber*innen:
„Himmel und Erde. Künstlerische Feldarbeit unter Obstbäumen“, Buchpräsentation 16.03.2018

Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen, Taras Prochasko, Suhrkamp Verlag 2009
»… sechs Buchen zwei Tannen eine Fichte eine Erle«: Der ukrainische Autor Taras Prochasko hatte eigentlich Journalist werden wollen, der über die Natur schreibt. Sein Blick auf Natur und Landschaft wurde dann aber vom Studium der Biologie und der Arbeit als Forstwissenschaftler geprägt, sein Schreiben ist – auch vor dem Hintergrund der zerrissenen Geschichte seines Landes – bewusst knapp und fragmentarisch. Wäre die Ukraine einmal Ehrengast der Frankfurt Buchmesse gewesen und hätte Prochasko wie einige seiner Schriftstellerkolleg*innen einen epischen tausendseitigen Roman aus seinen Aufzeichnungen gemacht, wäre er bestimmt bekannter geworden. Und so sind auch wir selbst erst nach der Rückkehr von einer Reise durch eben die Gegend, über die Prochasko schreibt, und fast zehn Jahre nach seinem Erscheinen auf Deutsch auf das nur etwas über 100 Seiten starke Bändchen gestoßen: auf dem Wühltisch eines modernen Antiquariats in Kreuzberg. Vielleicht passt das aber auch genau zu Prochaskos Ansatz, »das tägliche Leben nicht von der täglichen Literatur zu trennen«.

Schafe. Ein Porträt, Eckhard Fuhr, Matthes & Seitz Berlin 2017
Schafe in der Landschaft einfach nur als pittoreske Relikte des Pastoralen wahrzunehmen verkennt, welche Wirkungsmacht diesen Tieren bei den beiden großen historischen Transformationen jeweils zugekommen ist. Zunächst als einem der ersten domestizierten Tiere im Rahmen der neolithischen Revolution, dann aber auch während der industriellen Revolution: als Kulturlandschaftsgestalter und Wolllieferanten für die aufkommende Textilindustrie gleichermaßen.
Wohin die gegenwärtige Transformation uns führt, ist noch nicht ausgemacht, selbst wenn heute Nachhaltigkeit auf dem Plan steht. Und vielleicht deshalb schreibt Fuhr schon am Anfang seines Buchs: »Wer weiß, vielleicht steht dem Schaf in postindustriellen Zeiten eine grandiose Zukunft bevor als Daseinsstütze für die entwurzelten Bewohner urbaner Zonen.«

Fünfzehn Tage in der Wildnis, Alexis de Tocqueville, diaphanes 2013
Als Alexis de Tocqueville 1831 Nordamerika bereiste, woraus die beiden berühmten Bände Über die Demokratie in Amerika hervorgegangen sind, machte er auch einen Abstecher an die »Grenzen der Zivilisation«. Ausgangspunkt seiner »fünfzehn Tage in der Wildnis« war Detroit, eine französische Gründung und Kleinstadt von »2.000 bis 3.000 Seelen«. Mit Pferden und Reisebegleiter Gustave de Beaumont ging es von dort durch Michigan, damals noch kein Bundesstaat der USA, nach Norden zum Flint River, dann weiter mit indianischen Führern durch die Wälder bis zum Handelsposten Saginaw. Er suchte das Grenzgebiet auf, weil sich hier der Prozess der Zivilisation als schöpferische Zerstörung vor Ort beobachten lässt. Und seine Ökonomie als ein von der Vereinnahmung neuer Flächen und Ressourcen genährter Stoffwechsel offen zutage liegt. Dieselben 100 Meilen heute – Detroit–Flint–Saginaw – wären eine Reise durch von Deindustrialisierung und Abwanderung gezeichnete Städte und Landschaften. Die ehemalige Unwegsamkeit ist einem nahezu flächendeckenden Straßenraster gewichen, einige Golf- und Campingplätze, Recreation Areas, Resorts und Wildlife Refuges inbegriffen.

Christina Ertl-Shirley, Klangkünstlerin und Radioperformerin:
„Plants and Animalis, A Sound Performance“, 14.04.2018

In the field – The Art of Field Recording, by Cathy Lane & Angus Carlyle, Uniformbooks 2013
Cathy Lane und Angus Carlyle, Co-Direktorinnen von CRiSAP (Creative Research into Sound Arts Practice) haben Interviews mit 18 zeitgenössischen Klangkünstlerinnen, die mit Fieldrecordings arbeiten, geführt und in diesem Buch gesammelt. Das Ergebnis ist eine spannende Mischung aus technischen Informationen, Einblicken in besondere Herausforderungen und Situationen bei der Durchführung von Naturaufnahmen, unterschiedlichsten Zugängen zum Komponieren mit Fieldrecodrings, Erzählungen zu den ersten Erfahrungen mit dem Medium und Hinweise zu weiteren Künstlerinnen. Jedem Interview ist ein Absatz von Lane oder Carlyle vorangestellt, in dem sie über ihren persönlichen Bezug zur Arbeit der Gesprächspartnerinnen erzählen. Ich nehm diese wunderbare Feldforschung immer wieder zur Hand und bin jedes Mal begeistert und inspiriert von der Vielfalt der sehr unterschiedlichen künstlerischen Praktiken und Motivationen für die Arbeit mit Fieldrecordings.

Das Geräusch einer Schnecke beim Essen, Elisabeth Tova Bailey, Nagel & Kimche Verlag 2012
Die Biologin und Journalistin Elisabeth Tova Bailey erzählt von ihrer Zeit in der sie aufgrund einer Virusinfektion über viele Monate ans Bett gefesselt war. Ein Geschenk einer Freundin – eine Topfpflanze – birgt jedoch eine neue Perspektive: Im Veilchentopf befindet sich eine Schnecke. Zu schwach, um das Tier ins Freie zu bringen, beginnt Bailey das Tier zu beobachten. Zuerst nähert sich Bailey langsam an, indem sie den täglichen neuen Schlafplatz des Tieres aufzuspüren versucht und bald ist sie so fasziniert von der Waldschnecke, dass sie Schritt für Schritt in die Kulturgeschichte und Biologie der Gastropoden eintaucht. In dem Buch mischt sich Erstaunliches über Schnecken mit Berichten über den Alltag von Elisabeth Tova Bailey und ihrer tierische Begleiterin. Als Kind hab ich selber immer Schnecken zum Spielen und Beobachten mit nach Hause genommen und schätze diese Wesen nach diesem Buch noch mehr.

Quiet Girl in a Noisy World – An Introvert’s Story, by Debbie Tung, Andrews Mc Meel Publishing 2017
Ist es in Ordnung, das Wochenende lieber alleine zu Hause mit Büchern zu verbringen, als unter Menschen ? Wie lange hält die innere “Soziale Batterie” einer Introvertierten auf Parties und wie lädt man diese wieder auf ? Wie kleidet man sich am Besten, um nicht in Gespräche verwickelt zu werden? Debby Tung spricht den Zurückhaltenden in einer extrovertierten Gesellschaft aus dem Herzen. Sie erzählt in ihren Comics von ihrem Alltag als in sich gekehrte Heranwachsende und die speziellen Herausforderung die dieser von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter für sie birgt: Probleme in der Schule, da die allgemeine Erwartung ist, sich aktiv im Unterricht zu beteiligen, Interaktionen mit Gleichaltrigen in der High School, das erste Zusammentreffen mit der Familie ihres kontaktfreudigen Freundes, unbeholfene Versuche Smalltalk zu führen, das Zurechtfinden und Schaffen von einsamen Momenten im Großraumbüro und zuletzt auch das Akzeptieren der Introvertiertheit als Qualität anstatt krampfhaft zu versuchen sich anzupassen.

Ein Leben mehr, von Jocelyne Saucier, Insel Verlag 2015
Eine Fotografin macht sich auf den Weg in die kanadische Wildnis um über die Großen Brände, die 1916 in der Provinz Ontario wütenden, zu berichten. Dort trifft sie auf eine Gemeinschaft von zwei alten Männern, die sich im Wald zurückgezogen haben um dort aus unterschiedliche Motiven in Ruhe ihren Lebensabend zu verbringen. Die Alten lieben die Einsamkeit und haben ihre Hütten so weit weg voneinandern gebaut, dass sie einandern nicht stören, aber nah genug um sich manchmal zu besuchen. Sie verbindet ein Todespakt, selbstbestimmt ihrem Leben ein Ende setzen zu dürfen und das Versprechen notfalls dem anderen beim Sterben behilflich zu sein. Nicht nur der Besuch der Fotografin, sondern vor allem das plötzliche Auftauchen einer wunderlichen alten Dame, bringt den Alltag der Einsiedler in der beeindruckenden Natur Kanadas ruhig aber bestimmt durcheinander. Ein stiller Roman über die Idee der menschlichen Freiheit im Leben und im Sterben und die Möglichkeit über den Beginn eines neuen Lebens im hohen Alter.

Andreas Jandl, Übersetzer:
„Wilde Wälder“ von Roger Deakin, Lesung 08.05.2019

Vom Gehen im Eis, von Werner Herzog, Fischer Verlag 2009
Weil Werner Herzog J.A. Bakers Der Wanderfalke, den ich mit Frank Sievers übersetzt habe, als „die schönste Prosa“ bezeichnet, die er je gelesen habe, war ich neugierig, wie Herzog wohl selbst schreibt. In diesem Tagebuch berichtet er über eine Wanderung im Winter 1974, die er von München nach Paris unternimmt, damit dadurch – wie er hofft – die kranke Lotte Eisner am Leben bleibt. 22 Tage lang wandert und reflektiert er und beobachtet die Landschaft, die (wenigen) Menschen, die Vögel, das Wetter. In Sätze gefasstes Sehen in großer gefühlter Nähe zu J.A. Baker.

Bilder deiner großen Liebe, von Wolfgang Herrndorf, Rowohlt Verlag 2014
Bei Herrendorf bin ich ein Spätzünder. Als alle Welt Tschick las, wollte ich dem Hype nicht trauen. Ein paar Jahre später, bin auch ich überzeugt, dass ich alles von Herrendorf lesen möchte. 2018 entdeckte ich seinen letzten Text, eigentlich Fragment, von den Herausgebern ergänzt. Isa, die in einer Nebenrolle in Tschick schon großen Eindruck gemacht hat, bekommt die Bühne hier ganz für sich. Ihre Flucht aus der Anstalt und das anschließende Streifen durch die Un-Landschaften ihrer Welt, lässt die Tschick-Freude noch einmal aufglühen.

Der endlose Sommer, von Madame Nielsen, dt. von Hannes Langendörfer, KiWi 2018
Das Buch hält in sich die Geschichte einer huis clos auf dem Land in Dänemark in einem runtergewirtschafteten Gutshaus: Als zwei Portugiesen in diese geschichtenschwangere Welt treten, schlägt die Liebe ein wie ein Blitz. Erzählt wird nicht linear, die Erzählung gleicht einem Festgelage, bei dem die Speisen, in wilder Aufeinanderfolge serviert, aber nicht auf den Magen schlagen, sondern nur noch hungriger machen. Atmosphärisch ist der Text von „bedrückender Leichtigkeit“, die er nicht nur der Kunst der Autorin sondern auch der des Übersetzers verdankt. Es ist sein Erstling. Was für ein Wurf!

Von dieser Welt, von James Baldwin, dt. von Miriam Mandelkow, dtv 2018
Auch dieses Buch kam über die Übersetzerin zu mir. Baldwin erzählt die Geschichte eines Jungen aus Harlem, der an seinem – von allen vergessenen – 12. Geburtstag, die Welt um sich herum beschreibt: Familie, Kirchengemeinde, Stadtviertel. Besonders die Familienstrukturen, das Verhältnis zum stark religiösen Vater ist beklemmend gut beschrieben. Baldwin hat mich mit seinem Text in der neuen Übersetzung schon mit den ersten Zeilen gepackt. Ein Sog von Erzählung. Beeindruckend geschmeidig und mit einer stilistischen Bandbreite von Gosse bis Bibel.

Rico, Oskar und die Tieferschatten … und das Herzgebreche … und der Diebstahlstein … und das Vomhimmelhoch, von Andreas Steinhöfel, Carlsen Verlag 2011-17
So viel Witz, so viel Ernsthaftigkeit, so ein beschwingter, rasanter Ton! Die vier Bände zu lesen, war ein sprachliches Feuerwerk! In einem Heft habe ich dabei bemerkenswerte Formulierungen gesammelt, Neuwortschöpfungen, die dem erzählenden Rico an vielen Stellen unterlaufen, weil er, wie er seiner Umgebung geduldig erklärt „ein tiefbegabtes Kind“ ist. Ach, und was für eine Freude, als der Tiefbegabte einen Hochbegabten kennenlernt: endlich jemand, der ihn versteht, weil er auch anders als die Masse ist.

Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Mein kaputtes Königreich, von Finn-Ole Heinrich, mit Illustrationen von Rán Flygenring, Hanser Verlag 2013
Solche Kinderliteratur gab es in meiner Kindheit nicht. Da waren die Genres klar voneinander getrennt. Spannendes, Lehrreiches, Mahnendes, Trauriges, Lustiges. Finn-Ole Heinrich schafft es, die Genregrenzen zu überwinden und – wie Andreas Steinhöfel auch – eine ganz eigene Poesie für Kinder hier und da einzufügen. Maulina Schmitt, die eigentlich Paula heißt, hat das Maulen zur Königsdisziplin erhoben. Und obwohl sie inhaltlich von traurigen Dingen erzählt – der Trennung ihrer Eltern und der Krankheit ihrer Mutter -, beglückt sie mit ihrer Erzählung. Köstlich wie der „Maulwurfskuchen“, dessen Rezept im Buch abgedruckt ist.

Frank Sievers, Übersetzer:
„Wilde Wälder“ von Roger Deakin, Lesung 08.05.2019

Das Gesamtwerk von Veit Heinichen, dtv Verlag
Wenn man in einer Krise ist, hat mir eine weise Frau gesagt, soll man sich etwas möglichst Gutes tun. Sich morgens das schönste T-Shirt aussuchen, die flauschigste Unterhose, sich zu Mittag sein Lieblingsessen kochen. Und eine Beschäftigung finden, die für ein paar Stunden vom Kummer ablenkt. Mir schien das kontraintuitiv, denn wenn es mir schlecht geht, will ich literweise Bier trinken und Chips fressen und mich kotzelend fühlen. Aber ich bin dem Rat gefolgt und wurde reich beschenkt. Ich sah in dieser Zeit, auch ein Ritual der Trauerverarbeitung, jeden Abend mehrere Krimis im Fernsehen; in der Mediathek der ARD gab es gerade die Filme der Commissario-Laurenti-Reihe mit Henry Hübchen in der Hauptrolle. An der Volksbühne war er für mich einer von vielen gewesen, jetzt kamen mir seine schnoddrige Art und sein stetes leichtes Der-Welt-enthoben-Sein sehr zupass. Schon seine Stimme zu hören senkte meinen Puls. Dieser Mann konnte sich über Dinge ärgern, ohne dass es ihn länger grollte. Ja: das eigene Schicksal nicht zu schwer nehmen. Dann sah ich im Abspann, dass es auch eine Buchvorlage gab. Veit Heinichen, Mitbegründer des Berlin Verlags, ist vor Urzeiten nach Triest gezogen. Alle Laurenti-Bücher spielen dort, und sie sind viel besser als die Filme. Das Faszinierende an Heinichens Stil ist, dass er sehr flüssig, sehr erzählerisch ist, aber zugleich immer einige Haken schlägt. Glänzend, aber nicht überpoliert. Und seine Plots sind so elaboriert, dass ich mir bei den meisten Büchern ein Diagramm mit den Figuren und ihren Beziehungen anfertigte. Und in einem Band waren die Protagonisten, wie ich meinte, Orte. Wir haben es hier natürlich mit ziemlich klassischen Krimis zu tun, die nicht sonderlich originelle Titel tragen: Die Toten vom Karst, Tod auf der Warteliste, Der Tod wirft lange Schatten, Keine Frage des Geschmacks, Totentanz. Aber sie sind alle höchst unterhaltend; und sie bauen aufeinander auf (manche Figuren entwickeln sich über mehrere Bücher), weshalb es gewinnbringend ist, sie in der chronologischen Reihenfolge zu lesen. Zudem geht es immer um Themen auf der Höhe der Zeit, Umweltverschmutzung, Korruption, Mafia, globaler Drogenhandel. Nicht zuletzt lernt man sehr viel über die wechselhafte Geschichte sowie die außergewöhnliche Topografie und Geografie dieses Landstrichs. Die Foibe, Hohlräume in der Hochebene des Karsts, waren Schauplatz grausiger Verbrechen während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Reihenweise verschwanden dort Menschen, die tot oder lebendig in den Abgrund gestoßen wurden. Zugleich fließen tief unten im Kalkstein „sternenlose Flüsse“, die oft kilometerlang abtauchen und dann plötzlich wieder an die Oberfläche kommen, nachzulesen in Robert Macfarlanes Hauptwerk Im Unterland, das im Herbst bei Penguin erscheint (übersetzt von Andreas Jandl und mir).
Das macht die Bücher so bereichernd und hebt sie über die Filme: Während die Story im Film auf das Wesentliche zusammengestrichen ist, bieten die Bücher zahlreiche Volten und Nebenhandlungen und vor allem Exkurse, die mir Landschaft, Kultur, Lebensart näherbringen, sie mich schmecken lassen. Wie oft Laurenti auf einen Espresso geht und sich zehn Minuten Auszeit vom Wahnsinn nimmt … Die Auseinandersetzung des Menschen mit der eigenen Vergangenheit und Verortetheit, die Fülle des Lebens. Und immer höre ich Hübchens Stimme, wenn Laurenti schimpft. Ein Heinichen-Satz: „Als er die Straßenseite wechselte, ärgerte er sich, daß er die Guati bei ihr gekauft hatte.“ (Die Toten vom Karst)

Das Gesamtwerk von Jakob Arjouni, Diogenes Verlag
Nachdem ich zum dritten Mal Der heilige Eddy gelesen hatte, eine famose Geschichte über einen Trickbetrüger, besorgte ich mir nach und nach auch alle anderen Bücher des fantastischen Erzählers Jakob Arjouni. Wie rasant die deutsche Sprache sein kann! Wie gewandt, wie übersprühend! Arjouni ist gewiss ein vielfältigerer Autor als Veit Heinichen. Neben seiner fünfbändigen Reihe mit dem Privatdetektiv Kayankaya, die aller Ehren wert ist (Raymond Chandler lässt deutlich grüßen), hat er grandiose Erzählungen zu den vielfältigsten Themen verfasst, oft mit starken Wendungen, immer mit einer Leichtigkeit und Spannung, die Ihresgleichen sucht. Sogar ein Science-Fiction-Roman von höchster Glaubwürdigkeit ist dabei. Sein herausragendes Buch aber ist die Geschichte eines Ostdeutschen, der in die Mühlen der Fremdenfeindlichkeit gerät (Cherryman jagt Mister White). Wie man aus den richtigen Beweggründen die falschen Entscheidungen treffen kann, ist hier zu einem den Hals zuschnürenden Leseerlebnis geworden. Ein Arjouni-Satz: „Am Abend saß Fred mit neuem und, wie der Frisör gemeint hatte, ‚pfiffigem‘ Haarschnitt in einer Wirtschaft in der Nähe vom Ku’damm und aß Leberpfanne.“ (Magic Hoffmann)

Das Gesamtwerk von Dick Francis, Diogenes Verlag
Dick Francis ist ein Phänomen. Nachdem ich zufällig im Dezember 2018 ein Ramschbuch von ihm in die Hände bekam, habe ich es schon nach zwei Seiten entnervt in die Ecke gefeuert, geschwätzig, selbstverliebt, literarisch öd. Doch aus irgendeinem obskuren Grund bin ich immer wieder zu diesem Buch zurückgekehrt und habe darin geblättert. Und fand wohlige Sätze. Sätze mit einem Kniff. Begeisternd erzählte Passagen. Dann begann ich wieder von vorn. Und da hat er mich erwischt … Dick Francis war ein walisischer Jockey, geboren 1920, und der Legende nach ist er mit Mitte dreißig so schwer vom Pferd gestürzt, dass er seine Karriere aufgeben musste. Fortan schrieb er Bücher, die in der Welt des Pferderennens spielen. Aber keine schnöden Insider-Langweiler, sondern packende Storys, in denen ein kauziger, gutmütiger, moralisch integrer Mann das „Böse“ besiegt. Ja, Francis spielt mit Klischees, aber er bedient sie nicht. Jedes Buch hat sein eigenes Thema, Fotografie, Bankwesen, Computerprogrammierung, eheliche Untreue, Fliegerei usw. Die Palette ist so groß wie das menschliche Wirken. Ich lese Dick Francis seit vier Monaten und lebe seitdem mit ihm in einer Parallelwelt. Es gibt meinen Alltag, Arbeit, Freizeit, Spiel, und es gibt Dick Francis. Mit jedem der inzwischen etwa fünfzehn Bücher bin ich komplett in seiner Welt. Und es ist nicht einfach nur Unterhaltung, Francis führt uns in jedem Buch in ein anderes Gebiet, besonders bestechend in Hilflos, wo ein treu-untreuer Ehemann den Gewissenskonflikt austrägt, wie er mit seiner unheilbar kranken und ans Bett gefesselten Frau umgehen soll: Er liebt sie und will sie nicht verlassen, schläft aber mit anderen Frauen, was er vor ihr verheimlicht (ich stelle mir vor, dass Forfeit, als es 1968 erschien, ein ungeheuer modernes Buch gewesen sein muss). Der erste Roman, der für mich ein ähnlicher Pageturner war, muss Billard um halb zehn gewesen sein, oder vielleicht war es Die unendliche Geschichte oder Momo. Später kamen Der Steppenwolf und Der Name der Rose. Auf sehr verquere Weise hat mich dann nur noch Der Prozess ähnlich gepackt wie die Francis-Krimireihe (ein Buch, das ich hasste, während ich es las, und das ich begehrte, sobald ich es aus der Hand gelegt hatte). Håkan Nesser hat gewiss die ausgeklügelteren und virtuoseren Krimis geschrieben, er hat in mir immer größte Begeisterung entfacht, auch literarische Bewunderung für seine Sprache und seine Komposition, Dick Francis aber nimmt mich – neben ähnlich cleveren Kniffen und hochkomplexen Rätseln – mühelos mit in seine Welt und lässt mich nicht mehr los. Ich habe es einmal versucht und zwei Wochen durchgehalten (in denen ich Naked Lunch nach 100 Seiten verfluchte und abbrach), jetzt wohne ich wieder bei ihm. Und wie es Francis gelingt, siebzig Seiten lang mit steigender Spannung nur von einem auf einem Boot eingesperrten Mann zu erzählen (Risiko), das ist so gut, dass Francis’ höchste Adelung in Feuilleton (Spiegel: „der Meister des Thrillers“, Elogen in FAZ, Frankfurter Rundschau, Die Welt, Die Zeit) und Krimipreisen (u.a. Edgar Allan Poe Award) gerechtfertigt scheint. Seine Art des Erzählens hat ein beruhigendes Gleichmaß. Die Hektik der Handyhörigkeit ist noch fern, zugleich wirken Francis’ Bücher auf mich zeitlos. Und er kann auch das Tempo anziehen, wie ich es kaum je anderswo erlebt habe. Am liebsten mag ich die Übersetzungen von Malte Krutzsch, der den leise behäbigen und blitzgescheiten Ton am besten erfasst. Nikolaus Stingl mag origineller in seinen Bildern sein, auch moderner in Sprache und Syntax, anderen Übersetzern mögen die Dialoge besser gelingen (Krutzsch’ einziger Makel), aber bei ihm fühle ich mich wie in ein großes, flauschiges Kissen gekuschelt. Sehr lustig sind übrigens die Titel der ersten Übersetzungen, die in den 1970er und 1980er Jahren bei Ullstein erschienen sind (die meisten Bücher wurden von Diogenes noch einmal neu übersetzt oder zumindest durchgesehen): Milord liebt die Peitsche (neu: Peitsche), Jede Wette auf Mord (neu: Hilflos), Ein Jockey auf Tauchstation (neu: Schlittenfahrt), Ein Goldcup zur Entführung (neu: Risiko), Air-Taxi ins Jenseits (neu: Rat Race). Dick Francis hat an die vierzig Romane geschrieben, genug also, um sich ein Jahr lang in seiner Parallelwelt zu vergnügen – und dann wieder von vorn zu beginnen (oder vielleicht in den alten Übersetzungen zu stöbern). Für mich hat ein zweites Leben begonnen. Ein Francis-Satz: „Donnerstag, 17. März. Morgens war ich in Sorge, nachmittags in Ekstase und abends bewußtlos.“ (Risiko, übersetzt von Michaela Link)

Singt der Vogel, ruft er oder schlägt er? Handwörterbuch der Vogellaute, von Peter Krauss, Matthes & Seitz Berlin 2018
Von Glück darf reden, wer ein Arbeitsbuch zu einem seiner Lieblingsbücher des Jahres erkiesen kann. Oft zur Hand genommen, immer geliebt habe ich diese Vokabelsammlung von Vogellauten, die der Übersetzer Peter Krauss ursprünglich für seine eigene Übersetzungsarbeit zusammengestellt hat. Ein reich bebilderter Band mit schönsten Wörtern, jeder Eintrag (nach Vogelarten geordnet) ein Gedicht, die Vielfalt, die die Natur uns bietet (und der Mensch auszudifferenzieren verstand), zugleich ein unausgesprochener Appell dazu, diese Vielfalt zu bewahren. Die Natur schreit nach Wörtern! Wir müssen sie ihr nur schenken. Ein Krauss-Satz: „Eine von CHENU gezähmte Elster ahmt viele Wörter nach und ist traurig, wenn sie ein gelerntes Wort vergessen hat“.

Nele Brönner, Autorin und Illustratorin:
„Das Tigerei“, Lesung 28.06.2018

Endzeit, von Olivia Vieweg, Carlsen Verlag 2018
Vor zwei Jahren haben Zombies die Erde überrannt. Die Städte Weimar und Jena haben es geschafft, einen Schutzzaun zu errichten und den Kreaturen zu trotzen. Vivi und Eva, zwei sehr unterschiedliche jungen Frauen, müssen beide Weimar verlassen und versuchen nach Jena zu entkommen. Die einzige Verbindung zwischen den beiden Städten ist ein automatisierter Güterzug. Doch es kommt zu einem Zwischenfall, und die beiden gehen den Rest des Wegs zu Fuß durch eine Welt, in der der Tod rennt … Mir hat diese ganz leichtfüßig erzählte Zombiegeschichte viel Spaß gemacht. Der Comic ist sehr spannend und überraschend bunt – kurzweilig, sehr pop und etwas manga.

Die Welt der Söhne, von Gipi, Avant Verlag 2018
Der Comic spielt in einer apokalyptischen Sumpflandschaft. Helden der Geschichte sind zwei Brüder. Sie sind auf der Suche nach Nahrung, Waffen, Kleidung und ihrer Vergangenheit, vor allem getragen durch die Frage nach ihrer Mutter. Ihr vereinsamter und hart gewordener Vater versucht sie zu Kämpfern zu erziehen und von allem fern zu prügeln, was sie weich machen könnte. Nach dem Tod ihres Vaters versuchen die beiden Jungen, dessen Tagebuch zu entziffern. Aber sie haben nie Lesen gelernt. In der post-zivilisatorischen Welt der Söhne teilt Gipi die Menschheit in männlich und weiblich, in Kultur und Natur, und zeichnet einen grausamen Dualismus. Das Buch ist in seiner ernsten Gewalttätigkeit erschütternd und bezaubernd. Es beginnt im verstörenden Raum einer offenen Seenlandschaft ohne Anfang und Ende und endet in der genauso wagen Weite, ohne Geschichte und ohne Zukunft. Die Bleistiftzeichnungen sind unglaublich schön, zart und flüchtig, zum heulen ergreifend im Kontrast zu dem rohen Geschehen. Ich denke darüber nach, sie zu essen. 2018 erschien La terra dei figli des italienischen Comiczeichner Gipi in der deutschen Übersetzung. Zeit der Söhne hätte mir als deutscher Titel besser gefallen. Auch wenn Welt der Söhne sicher korrekt übersetzt ist, ist er zu absolut für das filigrane Buch.

Crawl Space, von Jesse Jacobs, Rotopol Press 2018
Die Schülerinnen Daisy und Jeanne-Claude haben ein Geheimnis. Im Kellers von Daisys Haus steht eine Waschmaschine, die einen Durchgang von unserer Realität eine anderen, eine parallele Welt, öffnet. Diese aus regenbogenfarbenen, geometrischen Formen und ungewöhnlichen Empfindungen bestehende, andere Wirklichkeit wird von bizarren Wesen bewohnt. Die Freundinnen erforschen diese seltsame Realität, und entdecken sie, dass auch sie durch ihren Einfluss verändert werden. Doch die beiden Freundinnen gehen unterschiedlich damit um. Jeanne-Claude nimmt immer mehr Schulfreunde in die wundersame Welt mit. Daisy ist vorsichtig. Eine echte Schultragödie, in der es um ödes Vorstadtleben, Beliebtheit und Freundschaft geht, entspannt sich in den merkwürdig schönen Panels. Die Zeichnungen machen sowas ähnliches wie die Waschmaschine – sie nehmen mich irgendwohin mit, wo ich noch nicht war und wo nicht viel gesprochen wird. Und Humor haben sie auch!

Schattenfuchs, von Sjón, Fischer Verlag 2011
Island im Winter, mir ist nicht klar wann. Ein Mann geht auf die Jagd. Der Mann wird Pastor Baldur, der eine Füchsin jagt. Es geht um Mensch, umNatur und eine mythische Zwischenwelt. In der Einsamkeit und Dunkelheit des Polarwinters überlagern sich Realitäten. Die existentiellen Abgründe, derer die Macht haben, zerschlagen die überfrorene, zarte Welt der Füchsin. Eine Frau stirbt. Abba wird zu Grabe getragen, aber nicht sie, sondern Steine liegen im Sarg. Fridrik beerdigt die Leiche lieber im eigenen Garten, als sie Pastor Baldur zu überlassen. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, die Protagonisten zu kennen, nicht zu kennen, zu kennen, nicht zu kennen. Die Sprache ist kühl und sehr poetisch. Keine schalen Metaphern, nichts trüb Gewordenes – eine weiche, eisblaue Erzählung. Sjón erhielt für Schattenfuchs 2005 den Literaturpreis des Nordischen Rates.

Wazn Teez?, von Carson Ellis, NordSüd Verlag 2017
Die Geschichte über das Wachsen und Vergehen erzählt ein Jahr in der Insektenwelt. Die Autorin und Illustratorin Carson Ellis hat das Buch in amerikanische Insektisch geschrieben, ins deutsche Insektisch übersetzt wurde es von Jess Jochimsen und Anja Schöne. Die beeindruckend feinen Bilder und der Text sind so brillant zusammen komponiert, dass ich schon auf der zweiten Seite Insektisch lesen konnte: Wazn Teez? Mi Nanüt! Die Welt, die Carson Ellis mich hier aufschlagen lässt, ist so schön und rührend, dass ich mir wünsche, mit auf die mirobelli Plumpse zu steigen und an der Forzung zu bauen. Wazn fümma Plumpse wollt ihr wissen? Mi nanüt! Lest das Buch! Es ist wunderbar.

Das ist nicht mein Hut, von Jon Klassen, NordSüd Verlag 2016
Die reduzierten und wunderschönen Illustrationen zeigen die Unterwasserwelt und einen kleinen Fisch. Er stiehlt einem sehr großen, schlafenden Fisch den Hut. Er glaubt, dass der Große es nicht bemerkt und er, der kleine Fisch, im Recht ist, den Hut zu nehmen. Und das er mit dem Diebstahl davon kommt. Während der Text die Gedanken der kleinen Fisch erzählt, zeigen die Illustrationen wie falsch er liegt. Der große Fisch erwacht quasi sofort. Er macht sich auch umgehend auf die Suche nach dem Hutdieb. Er weiß auch sehr schnell, wo sich der kleine Fisch versteckt hat. Jon Klassen treibt ein raffiniertes Spiel mit Worten, die von den Bildern Lügen gestraft werden. Lustig und sehr schön!

Helmut Höge, Autor und Journalist:
„Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung“, Lesung 17.08.2018

Erinnerungen eines Insektenforschers, von Jean-Henri Fabre, Matthes & Seitz 2009 – 2019
Die buchstäblich farbigen Schilderungen des südfranzösischen Entomologen, der von 1823 bis 1915 lebte und den Literatur-Nobelpreis für seine „Erinnerungen eines Insektenforschers“ bekam, beruhen auf drei welt- und lebensanschauliche Säulen: 1. Instinkte – vom Schöpfer aufs Feinste eingestellt, die keinen Spielraum für adäquate Reaktionen auf neue Situationen lassen. 2. Respekt vor dem Leben und Arbeiten patriachalischer Familien, Handwerker und Bauern – um dem Volk verständlich zu bleiben. (Ein Experte

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