Alice Cannava
Publisher, Editor and Researcher (Occulto Magazine)
Das Insektenbuch, Maria Sibylla Merian, 1991 Insel Verlag
Possibly the ultimate masterpiece of scientific illustration, in a small but beautiful German edition. Maria Sibylla Merian’s texts and artworks are one of the first accurate documentations of the insect life cycle and process of metamorphosis – in her time (1647-1717) it was still believed, with Aristotle, that many insects generated spontaneously from dirt. At the age of 52, Merian, based in the Netherlands since 1690, traveled to Dutch Surinam, where she made the observations that went into this book. The 300th anniversary of Merian’s death in 2017 was an occasion to celebrate her work in several countries, including Germany, where she was born (and where I live).
Che Spavento / Oh Schreck!, Luca Di Battista, 2016 RI Raum Italic
I became a mamma in March 2018, so my books of the year are mostly children’s books. A4 format and a minimal color palette (silver grey, black, white and chalk pink) on uncoated paper are not typical features of printed matters for little babies, yet my daughter loved Che Spavento since she was just about four months old, and we have read it pretty much every day since. I won’t spoil things with a fastidious description of the artwork – expect a mix of techniques including some frottage. As for the story: the pink squirrel Biagio lives in a community of fellow squirrels – the sort of squirrels who play chess and go canoeing. Biagio is a creature of habit, an avid reader, a pipe smoker and a little bit of a misanthrope. Till one day …
Les Extravagants – ci sorprendono sempre / nous amusent toujours / they still entertain us, Aurelia Alcaïs, 2018 Corraini Edizioni
This is another children’s book, I suppose, as it is published by Corraini, but really it can be enjoyed at any age. Each spread consists of a funny short text on the left and a delicate pen and pastels illustration on the right, both portraying a somewhat ‘extravagant’ famous character – the arbitraryselection of forty-six includes Josephine Baker, Diogenes, Camille Claudel, Immanuel Kant, Pina Bausch, Leonardo da Vinci, Elsa Schiaparelli. As simple as that.
After Man – A Zoology of the Future, Dougal Dixon, 2018 Breakdown Press
The ‘bible’ of speculative evolution. I discovered it in 2015 when Massimo Sandal wrote about it for Occulto, but in 2018 this facsimile reproduction of the 1981 first edition (featuring some changes by the author) came out, so I finally have my own copy and was able to spend some more time with it. The book imagines, describes and illustrates the animals of a hypothetical future set 50 million years from now, where, as the title suggests, humans – and most of the animal life as we know it – is extinct. It is a fantastic yet rational what-if game that tells us a lot about how evolution actually works.
Maigret e il corpo senza testa, Georges Simenon, 2005 Adelphi Edizioni
My favorite Maigret crime novels are among my books of the year every year. If you like good fiction, you must read Simenon. A reminder for the German-speaking world: fiction is supposed to contain dialogue! And a word of warning: Maigret may ruin British whodunnit for you.
La luna e i falò, Cesare Pavese, 1999 Einaudi
In 2018 I reread three classics of modern Italian literature written during or shortly after World War II. The authors, all antifascists, each felt the urge to write their “war book”. Calvino’s Il sentiero dei nidi di ragno (The Path to the Nest of Spiders) and Vittorini’s Uomini e no (Men and Not Men) are both largely based on personal experience as active partisans. Pavese’s La luna e i falò is staged a couple of years after 1945, in a small Piedmont village, and its flashbacks bring us not only back to wartime but also to the youth of the protagonist. A dark, gruesome, breath-taking short book that exposes the scars left by war, social inequality and personal desperation.
Christine
Handte
Expeditionsleiterin des Forschungsschiffs Heraclitus
Wenn es Krieg gibt gehen wir in die Wüste, Henno Martin, Two Books 2008
Zwei Geologen hauen vor Krieg und Nazis ab in die Namibische Wüste und überleben dort 2 Jahre lang, von der Außenwelt völlig abgeschnitten.
are we human? – notes on an archeology of design, Beatriz Colomina & Mark Wigley, Lars Müller Publishers 2019
Abhandlung über Mensch und Design und wie Design unser Wesen formt.
Silence in the Age of Noise, Erling Kagge, Penguin 2019
Gedanken eines Extremabenteurers zum Leben.
The Sea, a cultural history, John Mack, Reaktion Books 2013
Schrift über das Meer.
The Word for World is Still Forest, Anna-Sophie Springer & Etienne Turpin (eds.), K. Verlag 2017
Die Welt von Wald und Bäumen.
Andreas Weber
Philosoph und Autor
Animism. Respecting the Living World, Graham Harvey, C. Hurst, 2017
Der wichtigste Satz steht ganz am Anfang (sogar zweimal, am Anfang der ursprünglichen Einleitung und der zur Neuauflage: Animismus heißt, in einer Welt zu leben, die nicht von Dingen bevölkert ist, sondern von Personen. Man könnte auch sagen: Von Verwandten. Naum-Verwandte, Eichhörnchen-Verwandte, Stein-Verwandte, Wolken-Verwandte, verwandte und weit entfernte Berge. In einer solchen Welt – und es ist die Welt nach jener, deren Untergang wir gerade erleben, die der vom Menschen abgetrennten toten Dinge – ist jeder Atemzug das Erkanntsein in einer innigen Zugehörigkeit.
Das terrestrische Manifest, Bruno Latour, Suhrkamp, 2017
Latour erkannte schon in seinem Klassiker Wir sind nie modern gewesen (1995 auf Deutsch), dass die Gegenüberstellung von vorgeblichen Sachen und den vorgeblich allein zur Subjektivität fähigen Menschen eine Chimäre ist. Er läutete eigenhändig das Ende des Dualismus ein – und wurde so zum Propheten des Anthropozän. Darin ist er konsequent geblieben, das zeigt dieses Buches. Auf wenigen Seiten liest man darin eine scharfsinnige Analyse, wie sehr unsere immer noch bestimmende Sicht die Wirklichkeit erst verstellte und nun zerstört. Wie konnte die allem Beseelten abholde Linke nicht begreifen, dass sie im Kampf gegen die “Umweltzerstörung” die entscheidenden politischen Alliierten selbst verstoßen hat – nämlich die Subjekte der lebenden und nach Fülle strebenden Natur?
For Love of Matter: A Contemporary Panpsychism, Freya Mathews, State University of New York Press, 2003
Das beste Buch zum neue philosophische Würde gewinnenden “Panpsychismus” – der Haltung, dass diese Welt nicht nur aus Stoff besteht, sondern dass dieser Stoff zugleich eine seelische Realität ist. Mathews entfaltet, argumentiert, beweist – in der Grandeur klassischer Philosophie. Und darin ist ihre Idee vollkommen revolutionär. Aus meiner Sicht fundierter und auch existentieller als Philip Goffs neues Buch zum gleichen Thema (Galileo’s Error, 2019), das sich sehr der Neurophilosophie verschreibt. Mathews Buch wird einmal als einer der großen Klassiker gelten, darauf wette ich.
The Smell of Rain on Dust: Grief and Praise, Martín Prechtel, North Atlantic Books, 2015
Was wir in unserem abendländischen Bild der Indigenen kaum wahrnehmen ist die zentrale Rolle des Fühlens in ihrem Leben. Anders als hier, wo die “Rationalität” der letzte Maßstab ist (also die Haltung der anderen, nicht die eigene), gehört dort zu den Tugenden, sich selbst zu zeigen und das, was da ist, zur Sprache kommen zu lassen. Trauer um einen Verlust muss nicht “hinter sich gebracht” werden, sondern darf, soll ihren Raum haben, und so wird das Traurige zu einem Akt des Seins, der Bejahung, des Preisens derer, um die wir trauern. Die Erde brauchtedas Wasser unserer Tränen, um fruchtbar bleiben zu können, schreibt Prechtel.
The Living Mountain, Nan Shepherd, Canongate 2014
Das Buch, das Robert MacFarlane Dutzende Male gelesen hat und das ihn immer wieder zum Schwärmen bringt, ist eine Übung in Hiersein: Hinsehen, Zuhören, Wahrnehmen, die Haut spüren, die eigene und die des Steins, der Heide, der Bäche, um dann festzustellen, mit leisem Erstaunen und einem wachsenden Glück (das in seinem Wachstum immer stiller wird), das beide, die eigene Haut und die des Steins, die gleiche sind.
For Love of the Real. A Story of Life’s Mystical Secret, Lewellyn Vaughan-Lee, Golden Sufi Center 2015
Der Sufi, Meditationslehrer und Mystiker Vaughan-Lee schreibt an einer modernen Geschichte des Göttlichen in der Welt, die er ganz in der Tradition der Mystiker als einen Liebesprozess versteht, an dem wir immer wieder teilhaben und der sich uns in den besten Momenten erschließt. Ohne Pomp und ohne Strenge, aber mit einem für die unzähligen Manifestationen des Liebens offenen Sinn geschrieben, ist das Buch ein modernes mystisches Zeugnis, und darum auch ein Führer für diese gegenwärtigen Zeiten des Wandels, des Vergehens und des Sich-neu-Ordnens aus der Stille.
Jutta
Person
Journalistin und Autorin
Robinson Crusoe, Daniel Defoe, aus dem Englischen von Rudolf Mast, Mareverlag 2019
Daniel Defoes dreihundert Jahre alter Bestseller wurde letztes Jahr neu übersetzt, und das war eine perfekte Gelegenheit, meine Robinson-Crusoe-Phantasien, die auf dem kindlichen Lektürelevel der frühen Achtzigerjahre stehengeblieben waren, nochmal in neuem Licht zu betrachten. Wenn man nämlich die ungekürzte (und nicht zum Kinderbuch mutierte) Fassung von 1719 liest, entdeckt man einen literaturgeschichtlichen Meilenstein, der die hellen und düsteren Seiten der frühen Aufklärung zum Vorschein bringt. Zuallererst zeigt sich, dass es über zweihundert Seiten und viele Jahre dauert, bis der Fußabdruck eines anderen Menschen im Sand auftaucht – bis dahin beschreibt Robinson seine ziemlich unabenteuerliche Do-it-yourself-Routine. Mit den vom Wrack geretteten Geräten wiederholt er den Zivilisationsprozess: selbst getöpferte Krüge, selbst geflochtene Körbe, selbst gezimmerte Tische, selbst gezähmte Ziegen. Es gibt nichts, was man nicht lernen könnte, behauptet der Aufklärer, der auch etwas Buchhalterisches hat, wie Günther Wessel im Nachwort schreibt: „Da sitzt ein gerade dem Tod Entronnener, und der Autor lässt ihn nach bester britischer Kaufmannsart Bilanz ziehen.“ Vermutlich fand ich als Kind genau diese Survivaltechnik des Alles-selber-Machens so toll (und weniger das Buchhalterische, hoffe ich). Rudolf Masts Übersetzung liest sich sehr angenehm: entstaubt, aber auch nicht forciert modern, lässt sie dem Erzähler die grammatikalisch verschlungenen Gedankenlabyrinthe, die manchmal auch ein bisschen Leseausdauer brauchen. Beim Wiederlesen erschließt sich die Gedankenwelt des frühen 18. Jahrhunderts – der Pragmatismus bei gleichzeitigem Vertrauen auf die göttliche Vorsehung, die Kolonisierung und Unterwerfung der Insel und der „Wilden“, die Robinson vor eine ganze Reihe moralischer Probleme stellen. Grausam sind für ihn immer nur die anderen, die spanischen Konquistadoren etwa. Hier will ein frühbürgerliches Ich zum guten Herrscher werden, mit Vernunft und Schießpulver.
The Artificial Kingdom. A Treasury of the Kitsch Experience, Celeste Olalquiaga, Bloomsbury 1999
Dieses Buch war für mich eine Offenbarung, und ich habe nie verstanden, warum es nicht auch auf Deutsch erschienen ist. Die venezolanischstämmige Kulturhistorikerin Celeste Olalquiaga hat auch eine spanische Version herausgebracht, und es gibt eine Übersetzung ins Französische. Ich habe „The Artificial Kingdom“ 2018 und 2019 (nach einer halb vergessenen Uni-Lektüre in den späten 90er Jahren) nochmal sehr genau gelesen, weil es hier immer wieder auch um die Kulturgeschichte der Korallen geht. Vor allem aber versucht Olalquiaga eine bestimmte Art der Verlusterfahrung, die im 19. Jahrhundert anfängt, entlang der „Kitsch Experience“ zu fassen. Das Untergegangene, Entlegene, tief auf dem Meeresboden Schlummernde, ins Aquarium Gebannte, Petrifizierte, Gläserne oder in Kristallkugeln Eingefangene erfährt deshalb eine so große Aufmerksamkeit in diesem Buch. Celeste Olalquiaga selbst beginnt mit einem Einsiedlerkrebs, der auf ewig in einer Kristallkugel gebannt ist und von ihr auf den Namen Rodney getauft wird. „In Rodney’s eyes I have been able to gaze into myself as never before“, schreibt sie am Ende ihrer Untersuchungen über Melancholie und Nostalgie. Ein kluges und originelles, auf nicht-ätzende Weise ironisches und eben auch einfühlsames Buch, das die moderne seelische Unterwelt neu erfasst.
Das Buch vom Schleim, Susanne Wedlich, Matthes & Seitz Berlin 2019
Susanne Wedlich untersucht eine Substanz, ohne die, philosophisch gesehen, eigentlich gar nichts geht: Man muss nur an den Urschleim denken, aus dessen winzigen Entitäten Naturphilosophen wie Lorenz Oken im frühen 19. Jahrhunderts das „Etwas“ aus dem „Nichts“ entstehen sehen. Auch in der Geschichte der Evolutionstheorie war der Schleim dann entscheidend, von Thomas Henry Huxley bis zu Ernst Haeckel. Aber Schleim ist natürlich auch aus heutiger Warte physikalisch, mikrobiologisch oder umwelttheoretisch hochgradig spannend, wie Susanne Wedlich mit verschiedenen Ausflügen in diese Wissenszonen klarmacht. Und vor allem ist Schleim eben auch ein wunderbarer Faszination-und-Ekel-Hybrid, von Patricia Highsmiths Begeisterung für Schnecken bis zu ikonischen Horrorfilmen wie „Alien“. Ob Ektoplasma, Schneckenschleimspuren, Hydrogele, Protoplasma – dieses Buch lässt Schleime aller Art noch magischer glibbern.
Lisa Paetow, Polly Roberts, Sophia Klink,
Katie Harrison, Derek Niemann
New Nature Writing Scholars
Findings, Kathleen Jamie, Sort Of Books 2005 (chosen by Lisa Paetow)
„Between the laundry and the fetching kids from school, that’s how birds enter my life. I listen. During a lull in the traffic: oyster-catchers…“ Kathleen Jamie is not the kind of nature writer to conquer spectacular scenery from the top of the highest mountain. She pays attention in everyday life: to birds, to fish, to skylines, to the human body. In a precise, yet poetic style of writing her essays delicately connect art, science and history. Reading Jamie taught me to be aware, even if I do something dull like riding the train. Now I notice the birches and the spruces, the buzzards and the deer accompanying my travels. Long story short: 5/5 stars. Would recommend.
Unsheltered, Barbara Kingsolver, HarperCollins 2018 (chosen by Polly Roberts)
This is yet another brilliant depiction by Kingsolver of some of the troubles we face in today’s environmental and political climate, once again laced with a much needed sense of hope. Her, as ever, strong and empathic female characters educate as well as entertain us in her usual incredibly readable and sensitive prose.
Pilger am Tinker Creek, Annie Dillard, Matthes & Seitz Berlin 2016 (ausgewählt von Sophia Klink)
„Wenn du dich regungslos an ein Ufer hockst, um ein zitterndes Kräuseln auf dem Wasser zu beobachten.“ Ein Jahr lang durchstreift Annie Dillard die Wälder der Appalachen. Sie setzt sich neben Giftschlangen, staunt über die Amöben in einem Wassertropfen, stellt Spottdrosseln nach. Sie malt sich aus, wie „Neutrinos durch die Federn und Herz und Lunge wandern“, verwandelt die Spottdrossel evolutiv zurück in eine Eidechse. Immer wieder schlage ich dieses Buch auf und lese nur einen Satz. Sofort bin ich hellwach, sitze am Ufer und staune über dieses sprachliche Feuerwerk. Ich sehe die Spottdrossel, das zitternde Kräuseln auf dem Wasser. „Was du siehst, ist dein Geschenk.“
A Final Companion To Books From The Simpsons, Olivier Lebrun, Rollo Books 2018 (chosen by Katie Harrison)
I first peeped this banana-coloured-awkwardly-titled-tome in Zabriskie and have since spotted it in equally wonderful bookshops around the world, including the magnificent Waanders in de Broeren. It has lived by my bedside and been a friend to me often. To sit down at 6 pm with tea and toast to watch the Simpsons is a pleasure, to flick through a book of books in the Simpsons at any time you fancy is, well, pure bliss. In these turbulent times, I urge us all to own this book.
Dark Tales, Shirley Jackson, Penguin 2016 (chosen by Katie Harrison)
‘She writes not with a pen but with a broomstick’ is quoted on the front cover of this brilliantly ghastly book which kept me spooked for much of 2019. In fact, there is a tale called, The Man in the Woods I am too terrified to read! These short stories are creepy because they are normal. She twists the everyday and turns it into something horrendous, like simply getting off a bus at the wrong stop. What’s the worst that could happen? When I discovered Jackson was a prolific female horror writer I was intrigued, when I discovered she died unexpectedly in her sleep at only 48, I was hooked.
Underland, Robert Macfarlane, Hamish Hamilton 2019 (chosen by Derek Niemann)
There are times when I read a book and feel a guilty pleasure in thinking: I’m glad this is not happening to me. Macfarlane lives a dual life of a quiet academic and an intrepid, fearless explorer and some of his journeys into the subterranean worlds of the earth are nothing short of terrifying. As he writes of descending in snow blizzards into Arctic sea caves, climbing Greenland glaciers and crawling through the narrowest and darkest of Mediterranean tunnels, I am very happy to allow his vivid writing to bring them to life for me, while I curl up with a drink and a big cushion.
The Frayed Atlantic Edge: a historian’s journey from Shetland to the Channel, David Gange, William Collins 2019 (chosen by Derek Niemann)
There are no half-measures for the author, who kayaks around the raw western coasts of the British Isles. It’s an illuminating mixture of wildlife, geology, history and culture – a fresh perspective on the coasts, islands and their peoples past and present. And one character dominates this epic tale – the sea in all its moods and characters.
Petra
Ahne
Journalistin und Autorin
The Human Planet. How we created the Anthropocene, Simon L. Lewis, Mark A. Maslin, Pelican Books 2018
Dieses Buch schafft, was dem Begriff „Anthropozän“ im besten Fall auch gelingt: einen Perspektivwechsel, ein Bewusstsein für die folgenreiche Verschiebung der Kräfte, die auf der Erde in den vergangenen Jahrhunderten passiert ist. Der Mensch wurde von einem bloßen Bewohner des Planeten zu einer jenen nachhaltig verändernden Macht– zunächst, ohne dies zu wissen oder zu wollen. Wie erstaunlich dies ist, unabhängig von seinen fatalen Konsequenzen, machen Simon L. Lewis und Mark A. Maslin klar, indem sie die Geschichte der Erde von ihren 4,5 Milliarden Jahren zurückliegenden Anfängen her erzählen; überträgt man diese Zeit auf die Dauer eines Tages, erscheint der Mensch bekanntermaßen in den letzten vier Sekunden. Die britischen Wissenschaftler zeichnen sehr lesbar die zivilisatorische Entwicklung unserer Spezies nach, die uns zuletzt ins Zeitalter der Klimakonferenzen gebracht hat. Das Anthropozän, so ihr hoffnungsvoller Ausblick, muss keine Erdepoche der Zerstörung und des Artensterbens werden: Der Mensch hat so viel gelernt – er könnte auch lernen, mit seinem Zuhause achtsam umzugehen.
Losing Earth, Nathaniel Rich, Rowohlt 2019
Dass die Menschheit genau weiß, wie es um den Planeten steht, dass sogar alle nötigen technischen Lösungen bereitstehen, die der Erderwärmung Einhalt gebieten könnten, und trotzdem in jedem Jahr mehr Co2 in der Atmosphäre landet – das ist der eine Fakt zum Haareraufen. Ein anderer ist, wie erstaunlich lange der Zusammenhang zwischen CO2-Konzentration und Treibhauseffekt schon bekannt ist – nämlich über 150 Jahre – und wie nah die Regierungen in den 80er-Jahren einem bindenden Rahmenvertrag kamen, der den Klimawandel gestoppt hätte. Am Weißen Haus war schon eine Solaranlage installiert, George Bush Senior machte Klimaschutz zum Wahlkampfthema. Dann begann die Ölindustrie mit Desinformationskampagnen. Wie Nathaniel Rich detailliert rekonstruiert, wie die historische Chance verpasst wurde, warum das Abkommen am Ende doch nicht zustande kam, ist feinster und zutiefst ernüchternder Journalismus.
Wochenendhaus, Sarah Khan, Mikrotext 2019
Im findigen kleinen Verlag Mikrotext erschien im vergangenen Frühjahr Sarah Khans Wochenendhaus, die lustigste, erbarmungsloseste, lakonischste Analyse der Sehnsucht nach dem Haus im Grünen, die mir je untergekommen ist. Auch die Berliner Autorin spürte sie, die Sehnsucht, und jetzt gehört ihr und ihrer Familie eine ehemalige Dorfschule mit riesigem Garten in der Ostprignitz. Auf knapp 100 pointierten Seiten demontiert sie genussvoll jede romantische Assoziation, die sich bei den Worten einstellen könnte. Am Ende weiß man: Glück ist, wenn die Grube mal wieder nicht übergelaufen ist und man es schafft, dass die Brombeere den Garten nicht bis zur vollständigen Verdunklung übernimmt. Und das traurigste Wochenende trotz allem das, an dem man es nicht raus schafft.
1984, George Orwell, Ullstein Verlag 2016
Nachdem mich die viel gelobten Zeuginnen von Margaret Atwood merkwürdig unberührt zurückgelassen hatten – was aber vermutlich damit zu tun hat, dass ich Teil eins nicht kenne – beschloss ich, eine andere Dystopie endlich einmal zu lesen: George Orwells 1984. Ein Buch von solcher Düsternis, dass man auch 70 Jahre später froh ist, dass der todkranke George Orwell seine Schwester dabeihatte, als er es in der Abgeschiedenheit einer schottischen Insel schrieb. Dass es auch heute noch eine solche Kraft hat, liegt zum einen am verblüffenden Wiedererkennungswert von Details aus dem Alltag des Orwellschen Überwachungsstaats: Geräte, die mithören und Informationen über ihre Besitzer sammeln, das kommt uns doch sehr bekannt vor. Das nachträgliche Umschreiben von Ereignissen, die sich nicht im Sinne der totalitären Regierung zutrugen – kennen wir auch, das heißt heute „alternative facts“. Die eigentliche Wucht des Romans liegt aber darin, dass er zeigt, was bleibt, wenn Menschen alles genommen wird, die Sprache, die Liebe, die Kunst: abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit.
David
Rothenberg
Musician, Composer and Author
Lost Children Archive, Valeria Luiselli, Penguin 2019
I’m a nonfiction writer, but mostly I read fiction, maybe too often novels about people like me. Do I need to examine why? Even so, I was surprised to find such a beautiful and celebrated novel about not one but two field recordists, a married couple, working through their relationship, traveling across the country with their two children. One is an audio documentary producer, the other more of a creative sound artist. And there are more children, the lost ones, deep down at the Border. This book and its author have been justly celebrated this past year. Just read it.
A Life in a Poem, David Rosenberg, Shearsman Books 2019
This author and translator of ancient texts has almost the same name as me and people sometimes confuse us, even though he is older than I and a lot smarter. This memoir reveals his deep enmeshing in literature and his true passion for words and the spirit. A pithy and intense book.
The Study of Animal Languages, Lindsay Stern, Penguin 2019
All right, this novel divides my favorite concerns into two people, a married couple, one a birdsong scientist ready to make the leap to direct consideration of animal intelligence, and her husband a suffering philosopher. All hell breaks loose as the family struggles. Brilliant, erudite, suprising, a book I wish I could have written. Instead I lived it.
The Red Caddy: Into the Unknown with Edward Abbey, Charles Bowden, University of Texas Press 2018
Ah, Chuck Bowden, we lost you too soon. One by one his unpublished works are appearing, this one a reckoning on his friend and mentor Ed Abbey, the cranky old author of Desert Solitaire and raconteur of the desert and its destruction. Bowden blended Abbey’s love of nature with a hallucinatory addiction to the darkest kinds of human desires, some kind of sun-baked William Burroughs slinking back and forth across the Border. Here he drives Abbey’s famous red Cadillac out to the old man’s secret grave, and wonders how much he ever understood of Abbey’s Road. “Take the other,” Cactus Ed would say.
The Volunteer, Salvatore Scibona, Penguin 2019
A haunting novel about three generations of men fighting in wars, each of them not quite aware who they really are while we, the readers, know exactly their histories which they are never told. A rar