Die Spinne, dieses achtbeinige, behaarte Wesen mit seinen rätselhaft unbeweglichen Augen, das seit mehr als 300 Millionen Jahren in Höhlen und auf Bäumen lebt, hat sich tief in unseren realen und imaginären Kellern und Dachböden – und nicht zuletzt dem Unbewussten – eingenistet. Es ist ihr Körperbau, die sie zum ganz und gar anderen Wesen werden lässt.
Ganz gleich, ob es sich um Lügengewebe, Hirngespinste oder Netze metaphysischer Spekulation handelt – der seidene Faden, den die Spinne aus Drüsen an ihrem Hinterteil blitzschnell abzusondern vermag, inspiriert dazu, dieses Verhalten als Metapher für vielfältige und auch widersprüchliche Praktiken zu lesen. Und so knüpft Lothar Müller in seinem assoziationsreichen Portrait ein dichtes Netz aus erhellenden und obskuren, auf jeden Fall schillernden Deutungen der fremdartigen, doch allgegenwärtigen Tiere: von Kierkegaard, der mit ihnen über das Dasein spekuliert, zu Spiderman, der doch nie Spinne wird, von Marx, der seine Arbeitswertlehre mit Blick auf die »Spinning Jenny«, die erste Spinnmaschine, und auf die automatischen Webstühle entwickelt, zum Arachne-Mythos als Ursprung des Erzählens als Widerstand, bis zur Künstlerin Louise Bourgeois, die sie als »Maman« in Riesenskulpturen zur großen Beschützerin werden lässt, deren Kokon Platz für uns alle bietet.
Lothar Müller, 1954 in Dortmund geboren, ist Journalist und Literaturwissenschaftler. Er schreibt für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, Zeitschriften und den Deutschlandfunk. Seit 2010 ist er Honorarprofessor am Institut für Deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin. Er wurde 2008 von der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay ausgezeichnet und erhielt 2022 den Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste.